Im Jahr 2010 veröffentlichte Steven Johnson, ein US-amerikanischer Wissenschaftsjournalist, sein Buch Where good ideas come from. The seven patterns of innovation. Im gleichen Jahr wählte der britische Economist das Werk zum Buch des Jahres. Es ist keine (!) dieser zahllosen „How to do“-Anleitungen, die mit einer unterschiedlichen Anzahl von „Wegen“, „Prinzipien“ oder „Techniken“ den direkten Weg zum Erfolg verheißen. Vielmehr liefert Johnson einen breit angelegten Überblick zum Thema Kreativität – quer durch die Menschheitsgeschichte und durch zahlreiche Disziplinen. Wonach er sucht, sind die Bedingungen der Möglichkeit von Innovation.
Johnsons Buch handelt von Innovationsräumen. „Es gibt Umgebungen“, schreibt der Autor, „die neue Ideen im Keim ersticken scheinen, während sie in anderen prächtig gedei-hen.“ (25) Großstädte und das World Wide Web seien solche produktiven Innovationsräume. Ideen und die Umgebung, in der sie entstehen, stehen in einem wechselseitigen Einflussverhältnis. Die These von Johnson ist, „dass überdurchschnittlich produktive Umgebungen bestimmte Eigenschaften gemeinsam haben“. (26) Diese Eigenschaften beschreibt Johnson anhand von sieben Mustern. Sie sind keineswegs neu, vielmehr haben sie schon eine lange Geschichte. Außerdem kommen sie nicht nur in menschlichen Schöpfungen wie Großstädten und dem Internet vor, sondern auch in der Natur.
Johnson wendet sich gegen die überkommende Sichtweise ökonomischer Lehrbücher, wonach vor allem der Wettbewerb zwischen konkurrierenden Unternehmen Innovationen bei Produkten, Prozessen oder Dienstleistungen hervorbringt. Vielmehr betont er, dass „Offenheit und Vernetzung letztlich fruchtbarere Ergebnisse hervorbringen als purer Wettbewerb“ (30). Der Forderung, sich den vernetzten Umgebungen zu öffnen, entspricht Johnsons Maxime, wir seien oft besser beraten, wenn wir Ideen zusammenführen, statt sie argwöhnisch vor fremden Blicken zu schützen. Die Geschichte von Innovationen in Natur und Kultur zeige, „dass Umgebungen, in denen gute Ideen abgeschirmt werden, auf lange Sicht weniger innovativ sind als offene Umgebungen“ (31).
Muster 1: Das Nächstmögliche
Gute Ideen entstehen häufig als eine Aufeinanderfolge von bereits vorhandenen Einzelteilen und Fähigkeiten. „Ideen sind wie Basteleien“, schreibt Johnson (39). Auch die Evolution bediene sich der zur Verfügung stehenden Ressourcen und verbinde sie zu etwas Neuem. Technologischer und wissenschaftlicher Fortschritt vollzieht sich nur selten in Quantensprüngen. Die Regel ist: Schritt für Schritt als Aufeinanderfolge von Kombinationen vorhandener Ersatzteile. Der Biologe Stuart Kauffman hat dafür den Begriff das „Nächstmögliche“ geprägt. Das Nächstmögliche, so Johnson, können wir uns wie ein Haus vorstellen, „das wie durch Zauberhand mit jeder Tür, die wir öffnen, immer größer wird“ (42). Die Geschichte des Menschen und seiner Kultur lasse sich als Aneinanderreihung von Versuchen beschreiben, das Nächstmögliche zu erkunden, und mit jeder Entdeckung öffneten sich neue Möglichkeiten, die es zu erforschen galt. Allerdings gebe es Systeme, denen es besser als anderen gelinge, neue Möglichkeitsräume zu erkunden. Und wie sieht nun eine Umgebung aus, in der gute Ideen gedeihen?
„Innovative Umgebungen unterstützen ihre Bewohner darin, das Nächstmögliche zu erkunden. Sie halten einen reichhaltigen Vorrat an Ersatzteilen bereit, seien sie technischer oder konzeptioneller Art, und sie inspirieren dazu, die Ersatzteile neue zu kombinieren. Umgebungen, die Neukombinationen verhindern oder einschränken – weil sie Experimentieren bestrafen, neue Möglichkeiten verschleiern oder alles dort so angenehm ist, dass niemand auf die Idee kommt, etwas zu verändern – werden im Schnitt weniger Innovationen hervorbringen als Umgebungen, die das Ausloten von Grenzen unterstützen.“ (52)

Vorhandene Ressourcen neu verbunden: NeoNurture Baby-Inkubator (vor allem für Entwicklungsländer) aus ausrangierten Autoteilen
Muster 2: Flüssige Netzwerke
Geht es um gute Ideen, haben wir schnell das Bild des einsamen Tüftlers und Erfinders vor uns, der abgeschottet im stillen Kämmerlein etwas Geniales ausbrütet. Zwar trifft dieses Bild in Einzelfällen zu, der Regel entspricht es aber nicht. „Eine gute Idee ist ein Netzwerk“, so Johnson (57). Wir müssten uns vor dem althergebrachten Missverständnis befreien, eine Idee sei etwas Singuläres. Eher sei sie so etwas wie ein Schwarm. Ideen entstehen beim einzelnen Individuum in einem Netzwerk aus Nervenzellen, das zwei Grundbedingungen erfüllt: Es ist riesig groß, und es ist veränderbar. Diese Bedingungen lassen sich auf die Umgebung übertragen, die guten Ideen zuträglich ist: „Um unseren Geist innovativer zu machen, müssen wir für eine möglichst vernetzte Umgebung sorgen: Netzwerke von Ideen oder Menschen, die sich ähnlich verhalten wie die Verschaltungen eines Gehirns, das beständig die Grenzen des Nächstmöglichen auslotet.“ (59) Stellt man sich diese Netzwerke in unterschiedlichen Aggregatzuständen vor, so sind Neukonfigurationen im gasförmigen Zustand zwar möglich, werden von ihrem sprunghaften Umfeld aber ständig wieder auseinandergerissen. In festen Umgebungen besteht zu wenig Bewegung/Flexibilität, um neue Verbindungen/Ideen zu bilden. Flüssige Netzwerke böten, so Johnson, die weit günstigere Umgebung, denn in ihr könne ein System das Nächstmögliche erforschen.
Es kann nicht überraschen, dass eine wahre Innovationsflut folgte, nachdem die Menschen feste Ansiedlungen bildeten, die flüssigen Netzwerken ähneln. Der deutliche Anstieg der Innovationsrate nach Bildung der Städte bestätigt dies. Eine der wesentlichen Voraussetzungen dafür war, dass gute Ideen sich viel schneller verbreiten und mit anderen geteilt werden konnten. Durch diesen „Knowledge Spillover“ konnten sie automatisch von Individuum zu Individuum „fließen“. Johnson konzediert, „dass Ideen in Köpfen geboren werden, aber diese Köpfe stehen immer mit einem externen Netzwerk in Verbindung, die den Informations- und Inspirationsfluss bereitstellen, aus dem große Ideen entstehen“ (72).

Im Inneren des Microsoft Research Building 99: „The building was built with the help of the researchers themselves. One thing they wanted? Tons of collaboration spaces where they could meet, along with surfaces they could write things on.“ (Robert Scoble, scobleizer.com)
Interessant sind in diesem Zusammenhang die Erkenntnisse, die der Psychologe Kevin Dunbar Anfang der 1990er Jahre mit einer Studie über die Entstehung und Fortentwicklung von Ideen an vier führenden Molekularbiologie-Instituten zu Tage förderte. Die Protagonisten wurden bei ihrer Arbeit gefilmt; parallel dazu führte Dunbar zahlreiche Interviews. Das erstaunlichste Ergebnis der Studie, so Johnson, sei der Ort gewesen, an dem die wichtigen Durchbrüche zumeist erzielt wurden. Die meisten wichtigen Ideen seien während ganz normaler Besprechungen zustande gekommen, bei denen die Mitarbeiter zusammenkamen und über den Verlauf ihrer Arbeit sprachen. Dunbars Untersuchung lasse die einigermaßen beruhigende Schlussfolgerung zu, „dass selbst inmitten all der Hightech eines großen Molekularbiologie-Instituts das produktivste Werkzeug zur Erzeugung guter Ideen immer noch ein Tisch ist, an dem eine Handvoll Menschen beisammensitzt und fachsimpelt“ (75).
Pingback: Wo gute Ideen herkommen (Teil 2/4) | BeyssOnManagement
Pingback: Wo gute Ideen herkommen (Teil 3/4) | BeyssOnManagement
Pingback: Wo gute Ideen herkommen (Teil 4/4) | BeyssOnManagement