Hier kommt Teil 2 zu dem Buch Wo gute Ideen herkommen von Steven Johnson, der die für produktive Umgebungen typischen Eigenschaftsmuster drei und vier (von insgesamt sieben) beschreibt (zu Teil 1).
Muster 3: Die langsame Ahnung
Bei Ideen, die die Welt verändern, sind spontane Eingebungen, Geistesblitze und Heureka-Momente eher selten. Die meisten genialen Ideen, so Johnson, sind anfangs noch unausgereift – mehr Ahnung als Offenbarung. Im englischen Original nennt er dies „The Slow Hunch“, die langsame Ahnung oder Vermutung. Sie ist die Regel, nicht etwa die Ausnahme. An der Geschichte vieler Entdeckungen oder Erfindungen lässt sich zeigen, dass ihrem Spiritus Rector zunächst ein wichtiges Element fehlte.
„Nicht selten befindet sich dieses fehlende Element auch irgendwo, und zwar in Form einer weiteren Ahnung im Kopf eines anderen. Flüssige Netzwerke erschaffen eine Umgebung, in der solche halb fertigen Ideen miteinander in Verbindung treten können; sie sind eine Art Partner-vermittlungsagentur für vielversprechende Ahnungen. Sie machen es leichter, gute Ideen zu verbreiten, aber sie tun noch etwas viel Großartigeres: Sie helfen, gute Ideen zu vervollständigen.“ (90)
Die Geschichte des World Wide Web beschreibt Johnson als Archetyp für langsame Ahnungen. Tim Berners-Lee war als Kind fasziniert von einem Ratgeber, den er im Hause seiner Eltern vorfand. Das Werk Enquire Within Upon Everything war eine bis in das 20. Jahrhundert in englischen Haushalten weit verbreitete Haushaltsenzyklopädie. An diese Informationsquelle für alles und jedes erinnerte sich Berners-Lee Jahre später, als er als Softwareberater in einem Schweizer Forschungslabor daran arbeitete, mit Hilfe einer Software-Applikation Informationen über Mitarbeiter und Projekte als Knoten in einem Netzwerk zu speichern. Fast zehn Jahre nach „Enquire“ arbeitete Berners-Lee an einer umfangreicheren Applikation, die auf verschiedenen Computern abgelegte Dokumente mit Hypertextlinks verbinden sollte. Nachdem er verschiedene Namen verworfen hatte, nannte er die Informationsplattform „World Wide Web“. Berners-Lee hat stets deutlich gemacht, dass die Erfindung des WWW nicht auf einer zündenden Idee beruhte, auf einem Heureka-Moment.

Tim Berners-Lee‘ erster Webserver des World Wide Web. Dieser kann im Microcosm, dem öffentlichen Museum des CERN in Genf besichtigt werden.
„‚Die Erfindung des World Wide Web begann damit, dass mir immer klarer wurde, wie wichtig es ist, Ideen in einer offenen, netzartigen Struktur miteinander zu verknüpfen. (…) Das Web entstand als Antwort auf ein nicht genauer definiertes Problem, durch das Zusammenspiel vieler Einflüsse, Ideen und Einsichten aus verschiedensten Bereichen (…).‘“ (104)
Um Ahnungen weiterentwickeln zu können, müssen zwei Voraussetzungen gegeben sein: Flexibilität und Vernetzung. Das Bespiel von Berners-Lee zeige, erläutert Johnson, dass es für das Gedeihen langsamer Ahnungen einer Arbeitsumgebung bedarf, die vom Diktat der täglichen Aufgaben ausgenommen ist. Darüber hinaus bedürfe es Informations-netzwerke, um sich mit anderen über die eigenen Ahnungen austauschen zu können, die sie ergänzen und verfeinern. Die 15-Prozent-Regel von 3M oder die Initiative „Innovation Time Off“ von Google sind Beispiele dafür, wie Unternehmen versuchen, diesen Voraussetzungen einen institutionellen Rahmen zu geben.
Muster 4: Serendipität oder die zufällige Beobachtung
Otto Loewis Nachweis der Mischnatur der Kommunikation zwischen den Neuronen und Synapsen – durch chemische Botenstoffe und elektrische Ströme –, Dmitri Mendelejews Entwicklung des Periodensystems oder die Entdeckung der Molekularstruktur des Benzols durch Friedrich August Kekulé – die Liste der wissenschaftlichen Durchbrüche, die in Träumen ihren Anfang nahm, ist lang. Oftmals fehlt den vagen Ahnungen nur noch eine Verknüpfung, eine Zufallsfund, damit sie zu innovativen Ideen werden. Für diese glücklichen Zufälle und Neukombinationen gibt es im Englischen das Wort „Serendipity“. Serendipität, so Johnson, sei auf zufällige Begegnungen und Entdeckungen angewiesen, doch diese Entdeckungen müssten sich auch mit etwas verknüpfen lassen. Serendipität liege nur dann vor, wenn ein Forscher durch den glücklichen Zufall „ein wichtiges Puzzleteil entdeckt, das ihm bisher gefehlt hat“ (123).
Dem Zufall kann man gelegentlich ein wenig auf die Sprünge helfen, indem man sein Gehirn in einen assoziativen Zustand versetzt. Dafür gibt es einige Möglichkeiten, beispielsweise spazieren gehen oder länger duschen (Wer hat noch nicht von einem seiner Mitmenschen gehört, die besten Ideen kämen ihm beim Duschen?). Nicht selten, schreibt Johnson, stolpere man dabei über etwas, was man lange übersehen habe und frage sich: Warum ist mir das nicht schon früher eingefallen? Das sei Serendipität. Für Menschen, die aktiv nach Serendipität suchten, sei natürlich das World Wide Web das Medium schlechthin. „Die Informationsvielfalt im Netz bietet einen unerschöpflichen Hort an überraschenden Entdeckungen, und die Hypertextlinks sorgen dafür, dass wir innerhalb von Sekunden an diese Informationen herankommen.“ (135)

Das Portal IdeaExchange auf salesforce.com: Kunden können dort anregen, was sie sich vom nächsten Software-Produkt der Firma wünschen; außerdem können sie die Entwicklung dieser Anregungen verfolgen.
Es ist offensichtlich, dass auch für den Zufallsfund Ideen die Möglichkeit haben müssen, sich mit anderen Ideen zu verbinden; Ahnungen müssen aufeinandertreffen und sich gegenseitig ergänzen können. Mit dem Ziel, genau dies zu fördern, hat man in vergangenen rund 200 Jahren genau das Gegenteil bewirkt. Die Stichworte hierzu lauten: Patente, digitale Rechteverwaltung, Geschäftsgeheimnisse etc. „Das Problem solcher Restriktionen ist“, so Johnson, „dass sie Serendipität unterbinden und die Zahl derer drastisch einschränken, die zur Lösung eines Problems beitragen könnten.“ (138) Aus diesem Grund versuchten viele Organisationen, Arbeitsumgebungen „serendipitätsfördernd“ zu gestalten, indem sie etwa „abgeriegelte Spielwiesen für Ahnungen“ (138) anlegten: die Abteilungen für Forschung und Entwicklung. Leider seien diese Abteilungen in der Regel auch „eine Art geistiges Schließfach“ (138), weil sie eigene Entwicklung hüteten wie Staatsgeheimnisse. Johnson mahnt:
„Indem man die eigenen Ideen vor Mitbewerbern und möglichen Nachahmern abschottet, isoliert man sie auch von anderen Ideen, die sie ergänzen oder mit deren Hilfe aus Vermutungen und Ahnungen echte Innovationen werden könnten.“ (139)
Das Geheimnis der Inspiration in einer Organisation liege darin, Informationsnetzwerke einzurichten, die Ahnungen am Leben erhalten, ihnen gestatten sich zu verteilen und neu zu kombinieren.
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