Wo gute Ideen herkommen (Teil 4/4)

Abschließender Teil 4 zu dem Buch Wo gute Ideen herkommen von Steven Johnson, der das für produktive Umgebungen typische Eigenschaftsmuster sieben (von insgesamt sieben) sowie die Schlussbetrachtung über den „vierten Quadranten“ behandelt (zu Teil 1, Teil 2 und Teil 3).

Muster 7: Plattformen

Als Charles Darwin sich intensiver mit der Atollbildung beschäftigte, ahnte er bald, dass sie nicht allein durch das Versinken eines Vulkans entstanden sein konnten. Warum sollten diese ausgerechnet wenige Meter über der Wasseroberfläche zum Stehen kommen? Darwin fand heraus, dass es Korallen waren, die an den Flanken versinkender Vulkane idealen Nährboden vorfanden. Während ein Vulkan weiter im Meer versank, bauten die Korallen Stockwerk um Stockwerk und errichten so unterseeische steinerne Berge. Sie „hatten eine Plattform errichtet, und das im wahrsten Sinne des Wortes“, schreibt Johnson (197). Kennzeichen derartiger Plattformen ist Emergenz, also die „spontane Herausbildung von neuen Eigenschaften oder Strukturen eines Systems infolge des Zusammenspiels seiner Elemente“ (Wikipedia). Dafür sorgen auch die sogenannten Ökosystem-Ingenieure („eco-system engineers“), also Arten, die einen bestimmten Lebensraum überhaupt erst erschaffen oder maßgeblich verändern, wie beispielsweise Biber. „Plattformbauer und Ökosystem-Ingenieure öffnen nicht nur Türen zum Nächstmöglichen, sie errichten ganz neue Stockwerke.“ (199)

Coral atoll formation animation

Plattform: Atollbildung durch Korallen [By NOAA(2) (Public domain), via Wikimedia Commons]

 Die produktivsten Plattformen, so Johnson, haben immer mehrere Schichten. Ein gutes Beispiel dafür sei die Entwicklung des World Wide Web, das Berners Lee auf den offenen Protokollen der Plattform Internet habe errichten können. Auch die Entwickler des Kurznachrichtendienstes Twitter hätten auf existierenden Plattformen (u.a. SMS) aufbauen können, so wie zuvor schon die Gründer von Youtube. Die Vielseitigkeit von Twitter sei kein Zufall, sondern Ergebnis der Vorgehensweise seiner Gründer: „Als erstes schufen sie eine emergente Plattform, erst dann folgte twitter.com.“ (210) Sie bauten zunächst das Application Programming Interface (API) und legten alle für den Dienst wichtigen Daten offen. Dabei machten sie einen entscheidenden Unterschied:

„Normale Software behandelt API-Nutzer wie Bürger zweiter Klasse, die keinesfalls Zugriff auf den geheimen Quellcode erhalten dürfen, weil sonst der Wettbewerbs-vorteil verloren gehen könnte. Die Macher von Twitter begriffen jedoch, dass die komplette Offenlegung ebenfalls einen Wettbewerbsvorteil bietet: den Vorteil nämlich, dass die eigene Plattform als Fundament für einen ganzen Kosmos von Softwareapplikationen dient, die auf ihr aufbauen. Man könnte es auch den Vorteil der Zusam-menarbeit nennen.“ (211)

Emergente Plattformen haben einen weiteren Vorteil: Ob in der Natur oder in der menschlichen Kultur und Technik – sie sind ökonomisch effektiv, indem sie die Kosten für Neuentwicklungen drastisch herabsetzen (auch wenn diese sich in der Natur natürlich nicht beziffern lassen). Dabei ist eines der Kennzeichen derartiger Plattform die „fantasievolle Wiederverwertung von vorhandenen Ressourcen“ (216), kurz: das Recycling. Die 2001 in winzigen Hohlräumen im Inneren von Korallen im Roten Meer gefundenen großen Schwammpopulationen veranschaulichen zwei Grundprinzipien platt-formtypischen Recyclings:

„Sie beziehen das von seinen ursprünglichen Bewohnern verlassene Höhlensystem und finden dort Schutz vor Fressfeinden. Im Gegenzug scheiden sie Nährstoffe aus, mit deren Hilfe die Korallen noch mehr Aragonit erzeugen, wodurch noch mehr Lebensraum für weitere Schwämme entsteht.“ (218)

Diese Grundprinzipien lassen sich auf sämtliche Formen emergenter Plattformen übertragen. Dabei liegt der größte Vorteil übereinandergeschichteter Plattformen laut Johnson „in dem Wissen, über das man selbst nicht mehr zu verfügen braucht“ (226).

Schlussbetrachtung

Im letzten Kapitel „Der vierte Quadrant“ untersucht Johnson 200 der wichtigsten Innovationen und wissenschaftlichen Durchbrüche der letzten 600 Jahre. Dabei beschäftigt ihn die Frage, in welchen Kontexten diese Innovationen mehrheitlich entstanden sind. Um das herauszufinden, ordnet er die Innovationen einem der folgenden Quadranten zu:

Johnson_Quadranten

  • „individuell“ = Innovationen, die von einem kleinen Personenkreis innerhalb eines Unternehmens – oder besser noch: von einem Einzelerfinder – gemacht wurden.
  • „vernetzt“ = Innovationen, die von einem Kollektiv entwickelt wurden, mit entsprechender Aufgabenverteilung und mehreren Gruppen, die an demselben Problem arbeiteten.
  • „marktorientiert“ = Es war von Anfang an geplant, mit der Erfindung oder dem Patent Geld zu verdienen.
  • „nicht-marktorientiert“ = Alles, was sich frei in der globalen Infosphäre verbreiten sollte.

In den ersten zweihundert Jahren (1400 bis 1600) tue sich am meisten im dritten Quadranten; lediglich ein paar Ausreißer verteilten sich auf die anderen drei Quadranten (etwa Gutenbergs Druckerpresse im ersten Quadranten). „So sieht die Innovationslandschaft aus“, resümiert Johnson, „wenn Informationsnetzwerke nur langsam und unzuverlässig arbeiten, und es kaum wirtschaftlich-unternehmerische Konventionen gibt.“ (244) In den folgenden zweihundert Jahren (1600 bis 1800) büße der Einzelkämpfer ohne finanzielles Interesse (Quadrant 3) seinen Vorsprung gegenüber den aufstrebenden Netzwerken (Quadrant 4) fast vollständig ein. „Innovation ‚übersiedelt‘ aus den Köpfen Einzelner (auf der linken Seite) in größere Gruppen (auf der rechten Seite).“ (246) In den letzten zweihundert Jahren (1800 bis heute) seien entgegen der Erwartung Einzelkämpfer, die in ihren Labors Erfindungen austüfteln, eher selten. „Auf jeden Alfred Nobel, der unter strenger Geheimhaltung das Dynamit erfindet, kommt eine halbes Dutzend kollektiver Erfindungen (…).“ (248) Noch bemerkenswerter sei die Explosion im vierten Quadranten, also bei in nicht-marktorientierten vernetzten Kontexten entstandenen Innovationen.

Dass ausgerechnet dort, wo jeglicher finanzieller Anreiz fehlt, so viele gute Ideen entstehen konnten, liegt laut Johnson daran, dass der vierte Quadrant die üblichen Vorsichtsmaßnahmen zur Abschirmung guter Ideen (Patente, Copyrights, Betriebsgeheimnisse etc.) nicht kennt. Außerdem profitierte der vierte Quadrant von dem immer stärker werdenden Informationsfluss in dicht besiedelten Zentren. Alle sieben Innovationsmuster (…) „finden sich am ehesten in Umgebungen, in denen Ideen sich unkontrolliert verbreiten können“ (250), betont Johnson. Sobald Geld ins Spiel komme, veränderten sich leider die Bedingungen: „Ein finanzielles Anreizsystem bringt automatisch Beschränkungen und Geheimhaltung mit sich, wodurch offene Innovationsmuster es umso schwerer haben, ihren Zauber zu entfalten.“ (251) Der vierte Quadrant erinnere jedoch daran, dass es mehr als nur eine Formel für Innovation gebe: „Wir haben die Wunder des modernen Lebens nicht nur dem wirtschaftlichen Wettbewerb zwischen konkurrierenden Firmen zu verdanken, sondern auch den offenen Netzwerken.“ (255) Der marktorientierte Wettbewerb habe kein Monopol auf Innovation. Wettbewerb und Profit motivierten uns, aus guten Ideen gewinnbringende Produkte zu machen, aber in den meisten Fällen entsprängen diese Ideen selbst einer anderen Motivation. Zudem: „Der natürliche Zustand einer Idee ist der Fluss, der Spillover und die Verknüpfung. Es ist die Gesellschaft, die Ideen Ketten angelegt.“ (260) Johnson betont ausdrücklich, damit sei kein Plädoyer für die Abschaffung des geistigen Eigentums verbunden. Nur sei eben das Credo, ohne die durch geistige Eigentumsrechte erzeugte künstliche Verknappung komme Innovation zum Stillstand, schlicht falsch.

Für Johnson lautet die wichtigste Frage unserer Zeit, „wie es den großen Organisationen – seien sie staatlich oder privat, seien es Regierungen oder Konzerne – gelingen kann, die Innovationsmechanismen des vierten Quadranten besser zu nutzen“ (261). Wer wirkungsvolle Innovationsräume schaffen will, der sollte Johnsons abschließendes Statement stets vor Augen haben:

„‚Massenhaft‘, wie Poincaré es nannte, steigen Ideen nur in flüssigen Netzwerken auf, wo Verknüpfung wichtiger ist als Schutz. Wenn wir Umgebungen schaffen wollen, die gute Ideen hervorbringen – ob in Schulen, Unternehmen, Regierungen oder unserem eigenen Leben –, sollten wir immer daran denken, und nicht auf das leichtfertige Vorurteil verfallen, nur der Wettbewerb des Marktes würde für Innovation sorgen.” (264)

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